Montag, 15. September 2008

Lieber Bordellpianist oder Werber?

Die Franzosen müssen ein ganz besonders gestörtes Verhältnis zum Berufsbild des Werbers haben. Sonst wären zwei der sehr häufig zitierten Anekdoten über Werber nicht französischen Kreativköpfen entsprungen. Oder Koks ist in Frankreich sehr viel günstiger als bei uns.

Die eine Anekdote ist angenehm kurz und wurde von Jacques Séguéla, einer französischen Werbelegende der 70er Jahre und Gründer der Agentur Euro RSCG (das S in RSCG) in die Welt gesetzt.

Er soll zu Freunden gesagt haben: Erzählt meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung arbeite, sie denkt, ich bin Pianist in einem Bordell.

Die andere Anekdote ist etwas ausladender, schon länger als ganzes Buch erhältlich und seit neuestem auch als Kinofilm: 39,90 von Frédéric Beigbeder. Er soll Kreativer u.a. bei Young & Rubicam in Paris gewesen sein.

Während der erste zu seiner Hochzeit ein paar bahnbrechende Kampagnen entwickelt hat, ist vom zweiten in dieser Richtung nichts bekannt.

Was einiges erklärt.

Aus meiner Sicht kommt vom ersten eine charmante Koketterie der Vergangenheit, die von unserer heutigen Informationsgesellschaft überholt wurde.

Und vom zweiten populistischer Müll, der mehr oder weniger ambitioniert zu einer filmtauglichen Story zusammen gehämmert wurde. Provokation und maßlose Übertreibung wieder mal als gewinnbringende Stilelemente. Funktioniert scheinbar immer noch. Oder immer mal wieder.

Bei 39,90 wird das Klischee vom koksenden und saufenden Werber herrlich genährt. Und die Oberflächlichkeit der Branche unterstrichen. Ich musste mich neulich von einem guten Bekannten fragen lassen: "Komm, so ist es doch bei euch". Tiefgründiges Grinsen. "Gib es doch endlich zu". Noch tiegründigeres Grinsen. Verbunden mit lüsternem Augen heraus treten.

Ich selbst habe solche Zustände nicht im Ansatz erlebt, höre aber immer mal wieder, dass es sie geben soll. Vielleicht liegt es daran, dass ich mittags keinen Rotwein trinke und mir mit Entenleberpastete die Magenwindungen verklebe.

Fest steht, die Vorbehalte gegen Werbung sind groß. Woran wir Werber selbst schuld sind. Denn das Ergebnis unserer Arbeit sind u.v.a. die täglichen Werbeblöcke. Und die hält tatsächlich kein normaler Mensch aus.

Das einzig Gute daran ist, dass man mit intelligenten und mutigen Ideen zur leckeren Kirsche auf dieser fiesen Werbesauce werden kann.

Diese eine Herausforderung macht mir heute noch Spaß und sie treibt mich täglich an.

Die beiden Anekdoten sollten dich nun wirklich nicht davon abhalten, in die Werbung zu gehen. Stattdessen sind die nachfolgenden Fragen ein guter Test, ob du bereit für diese Branche bist.

Meine 10 Gewissensfragen, bevor du in die Werbung gehst.
  1. Kannst du allen deinen guten Freunden ins Gesicht blicken und sagen, dass du in die Werbung willst?
  2. Bist du in der Lage, einen durchschnittlichen Werbeblock an zu sehen ohne weg zu zappen?
  3. Erträgst du es, wenn fremde Leute deine Ideen als „die letzte Scheisse“ bezeichnen?
  4. Kannst du eine geniale Idee in den Papierkorb werfen und ganz neu anfangen?
  5. Hältst du viele eitle Menschen in deiner nächsten Nähe aus?
  6. Kannst du dir vorstellen, mit weißem Kittel und Haarnetz an einer Fertigungsstraße entlang zu laufen und die Arbeiter freundlich zu grüßen?
  7. Traust du dir zu, zwanzig Leuten an einem Konferenztisch deine TV-Manuskripte vorzulesen?
  8. Bist du bereit, am Wochenende zu arbeiten, ohne mehr Geld dafür zu bekommen?
  9. Kannst du dir vorstellen, mit einem unsympathischen Menschen an einem Tisch zu sitzen und mit ihm zusammen Ideen auszudenken?
  10. Hast du schon mal ein Plakat, eine Anzeige, einen Kino- oder TV-Spot oder sonstige Werbung gesehen, die du selbst gerne gemacht hättest?

Tipp 11: Wenn du nur eine der 10 Fragen mit „nein“ beantwortest, lass die Finger von der Werbung.





Der Kinofilm "39,90". Kein Grund, nicht in die Werbung zu gehen.

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