Sonntag, 23. Juni 2013

Deutscher Selbstbetrug in Cannes.

Wenn Sie das Marketing für ein NGO oder für eine soziale Einrichtung verantworten, so ist jetzt die beste Zeit, um sich von deutschen Agenturen kostenlos eine Kampagne stricken zu lassen.

Von 67 Cannes Löwen sind rund 40% für soziale Projekte vergeben worden. 10 Löwen allein für das „Tree Project“ vom B.U.N.D.

Wirft man einen Blick auf das Ergebnis von angelsächsischen Nationen, so ist das Verhältnis umgekehrt. Die Grand Prix Trophäen gehen an Marken wie Heineken, Toshiba, Intel, Mondelez oder die australische Metro. 

Wann wacht Kreativdeutschland auf?

Wenn wir unsere ganze kreative Energie – und unser eigenes Geld obendrein – nur in Projekte stecken, für die wir nicht bezahlt werden, wie sollen wir dann beweisen, dass wir mit ungewöhnlichen Ideen Marken nach vorne bringen? Und wie sollen wir stichhaltig darlegen, dass wir besser dafür bezahlt werden wollen?

Der Chefredakteur von w+v forderte in seinem Editorial zum letzten Cannes-Heft, dass doch endlich mehr deutsche Kunden nach Cannes kommen sollten, um sich inspirieren zu lassen.

Glaubt der Mann ernsthaft, dass es bei einem meiner Kunden Neugier weckt, sich die Leistungskraft deutscher Agenturen an Cases für B.U.N.D, die Diakonie, Düsseldorfer Tafeln, United Nations, WWF, Troy Davies, Innocence in Danger oder einem Teekalender vor Ort aufzeigen zu lassen?

Ich habe absolut nichts gegen soziale Kampagnen. Im Gegenteil. Wir arbeiten seit über 8 Jahren für die Initative Plant for the Planet (und nur dafür). Aber davon könnten wir nicht leben. Wenn wir neben unserer kreativen Arbeit für echte Kunden auch eine "soziale Marke" betreuen, so finde ich das verhältnismäßig. Und vertretbar für die Agentur. Mehr soziale Projekte kann ich nicht verantworten.

Das neueste Cannes-Ergebnis muss Kunden den Eindruck vermitteln, dass in unserem Land die Arbeit für soziale Projekte im Fokus steht. Nur noch kreative Gutmenschen um uns herum.

Ist das die richtige Botschaft an die Kunden? An den Nachwuchs? Und nicht zu vergessen: an die eigenen Teams?

Wäre es nicht endlich an der Zeit, dass die Chefs dieser Agenturen ihre Position und ihre Möglichkeiten nutzen, um auf echten Briefings die volle Energie zu fordern? Und ihre Teams dazu motivieren, alle Kraft da rein zustecken? In den Kampf um noch bessere Ideen, noch bessere Skripte, noch bessere Castings, etc. 

Vorzuleben, dass es für Agenturen in erster Linie darum geht, schwierige Marktprobleme mit kreativen Lösungen zu bewältigen und sie – wenn es ganz gut läuft – auch noch in Gold zu verwandeln?

Sicher, mit so einer Einstellung ist man vielleicht ein, zwei oder viele Jahre nicht mehr die Ranking-Nummer 1. Aber dafür beim Kunden.

Ich bin nun wirklich kein Freund von Amir Kassaeis verbalen Dauer-Rundumschlägen, aber mit diesen Aussagen (für ihn ungewöhnlich moderat formuliert) trifft er den Nagel auf den Kopf.

Der Selbstbetrug vieler deutscher Spitzenkreativer und die geringe Reflektion über den Zustand unserer Kreativarbeit ist betrüblich. Nein, schlimmer, er ist absolut geschäftsschädigend.

In diesem Sinne gratuliere ich allen Gewinnern, die es auf einem echten Briefing für die Lösung realer Probleme zu einem Löwen geschafft haben.

Und werde das Gefühl nicht los, dass unsere Branche erst völlig zusammenbrechen muss, damit der letzte ruchlose Löwen-Jäger kapiert, was er mit seiner Trophäengier anrichtet: seine eigene Degradierung.